Studien über #Dinge – Polieren

Vom Trottoir geht es ein paar steile Steinstufen hinab und ich bin in einer anderen Welt. Selbst der Schall meiner Schritte – verschluckt von jahrhundertealten Mauern. Feucht und muffig wäre es wohl in diesem Keller nah am Hafen, wenn nicht moderne Technik dafür sorgte, dass es nicht so wäre. Die Zeiger der Temperaturfühler wie eingefroren auf den immergleichen Zahlen.

 

Ich treffe Anne. Dass mich interessiert, wie das genau geht, mit dem Zusammenhang von Handwerk und Kunst, überhaupt diese Sache mit den #Dingen, davon hatte ich ihr erzählt. Und von dem Gefühl, das, was jenseits der Zeit ist, zuhanden zu haben.

 

Wir treffen uns in ihrer Werkstatt. Ein paar Steinstufen unter und neben dem aufgeregten Leben in einer Stadt, in der Touristen im Zeittakt ihrer Urlaubsplanung Geschichte bestaunen, während Einheimische mit Fischen und Kleidung handeln, als sei gar nichts geschehen. Hinter jahrhundertealten Mauern nun – Annes Silberschmiede. Und die ihrer Eltern und Großeltern und Urgroßeltern und –  „Man muss doch mit der Zeit gehen“, lächelt sie mich an, als ich mich ertappe, wie sehr mir das eine oder andere gefällt. Natürlich ist sie stolz.

 

Wir sind in Bergen. Seit mehr als 500 Jahren für die Verarbeitung von Silber berühmt. Für den Handel berüchtigt. Hanseregeln. Manche sind reich, Viele arm. #Dinge an der Schnittstelle privaten Lebens und öffentlicher Repräsentation; notfalls Zahlungsmittel. Und Anne sagt: „Na, wir haben ja auch wenig Anderes hier.“ Es ist ein fast außerweltlicher Glanz in einer im Grunde kargen Welt. Norwegen.

 

Und ich erzähle von meiner Arbeit, religiöser Kommunikation zwischen Deuten und Erleben. Von den Werkstätten von Worten, in denen gehobelt wird und Späne fallen. Von Ateliers und Kunst und der Person, die in der zeitgenössischen Theologie so im Fokus steht. Und ich beobachte Anne, wie sie durch Lupen schaut, sich konzentriert, den Werkstoff kennt und das Produkt schon sieht, bevor es da ist. Passungen im Nanometerbereich. Qualität durch Konstanz. Ganz feinen individuellen Handschriften, die sich dem Metall einprägen.

 

Die Werkstatt muss keine Möbelschreinerei sein, sie kann auch eine Silberschmiede sein. Und mir fällt ein, wie sehr dieser Ort zeitlos ist und wie sehr alles, was als Dienstleistung beschrieben werden kann, doch in Zeitintervallen messbar sein muss. Anne weiß das natürlich auch. Sie berichtet von Absatzschwierigkeiten und immer neuen Marketingstrategien. Sie weiß, dass eigentlich niemand braucht, was sie herstellt. Und zugleich weiß sie, dass man brauchen sollte, was sie herstellt. Jetzt lächele ich. Diese Sache mit der Funktion entfunktionalisierter Religion, denke ich.

 

Anne nimmt ein weiches Tuch aus einer Schublade und poliert das Werkstück, das sie gerade vom Schraubstock befreit hat. Das hat System. Und doch ist jedes Teil anders, ein bisschen Unikat, sagt sie. Ich weiß, was sie meint. Alles ein bisschen besonders und dann doch durch Regelhaftes, Gewohntes und Gewusstes erklärbar und nachzuvollziehen. Qualität erzwingt Standardisierung. Berufsförmigkeit erzwingt Standardisierung. Etwas wiederzuerkennen, in einer Welt, die sich ständig zu verändern scheint – ach, das wäre schön.

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Mir fallen die großen Feste meiner Kindheit ein. Als das Silberbesteck aus schwergängigen Schubladen geholt wurde, aus dunkelgrünen Filzbetten ans Tageslicht kam und sich zeigte, dass all dies nichts half, um den alltäglichen chemischen Austauschbeziehungen zwischen den #Dingen und der sie umgebenden Welt Einhalt zu gebieten. Die stundenlange Geduldsarbeit, Messern, Gabeln, Löffeln, Löffelchen und allem, was so rings um die Gedecke gehört, durch Reibung alten Glanz zu verleihen, wurde Kindern zugemutet. Und wenn alles nichts half, vertrieb der Geruch chemischer Tauchbäder aus mehrwandigen Flaschen mit schwarzen Kreuzen auf orangefarbenem Grund den Rest aller Dinge, die nicht waren, wie sie sein sollten. „Aber gesund ist das nicht“, sagte Oma dann mahnend.

 

Ich schaue in Annes Auslagen und wünschte mir, wir wüssten wieder, wo wir das theologische Silberbesteck finden. Wir würden die schwergängigen Schubladen aufziehen und die Filze zur Seite ziehen. Die Silberschmiedin sieht ihr Werkstück, bevor es fertig ist. Weil sie es bei ihren Vorfahren so gesehen hat, in deren Händen, in deren Notizbüchern, in deren Erzählungen. Ich hingegen poliere auf Verdacht. Oft nicht mehr als auf eine Ahnung hin. Doch mit einer Regel: Ich höre erst auf, wenn alles glänzt. Wenn ich irgendetwas entziffern kann. Wenn ich die #Dinge gern wieder zur Hand nehme und zwar auch so, dass sie mir im Alltag berufsmäßiger religiöser Kommunikation zuhanden sind. Wenn sie aus sich selbst heraus wirken können.

 

Polieren ist das A und O, sagt Anne. Erst dann siehst Du, ob es passt. Erst dann entsteht diese Faszination an dem, was über Jahrtausende in der Erde verborgen war. Ich tue etwas und doch handelt auch ein Anderes. Wasser auf den Mühlen ‚objekt‘-orientierter Handlungstheorien, denke ich bei mir und schiebe das doch für den Moment schnell beiseite. Und ich erzähle Anne von den vielen Alltagsentbergungen, die wir in den Kirchen machen. Und dass es viel mehr sein müssten. Und wie selten ich mich frage, wie viel Glanz da eigentlich noch sein könnte, in all diesen Ecken und Pfützen und den Debatten vor halbleeren Tiefkühlregalen am späten Samstagabend. Ja, sagt Anne, ich könnte nicht leben, wenn ich nicht darauf vertraute, dass da immer noch etwas ist. Und eine Zeitlang – ohne Zeit – sagen wir nichts. Stille breitet sich aus unter dem leisen Surren von Maschinen im Hintergrund. Ich sehe zu, wie Silberring und Lappen zwischen Annes Händen tanzen und sie hört der Feder zu, die sich die Linien meines Notizbuchs erobert. Und am Ende kaufe ich ihr etwas ab, wofür ich wohl nie Verwendung haben werde. Doch es bedeutet. Es ist handwerklich perfekt. Es verweist. Es ist Kunst. Ich hätte es nie selbst herstellen können und ich hätte es niemals, wenn es nicht diesen Nachmittag in einer Kellerwerkstatt in Bergen gegeben hätte. Ich sehe Anne an, dass wir das Gleiche meinen könnten.

 

Ich steige die Stufen wieder hinauf. Menschen gehen vorbei. Meine eigenen Schritten erobern sich ihren Trittschall zurück. Über dem Berger Hafen geht die Sonne unter. Glanz tanzt über den Wassern und erleuchtet die beginnende Nacht. Aus den Ecken scheppert Tanzmusik aus billigen Radios und in den Pfützen spiegeln sich die müden Gesichter der Fischer, die am Kai Bier und Zigaretten teilen, während Touristen Fotos von Fischplatten bei instagram ablegen.

 

 

 

Fotocredit: „Sølvskatten“, KODE 1/ Kunstmuseer, Bergen/ Norwegen;  Politur (vorher/ nachher) – beide: Friederike Erichsen-Wendt

 

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